Brahim Kerkour: Intone
for six voices
(2013)Mehr als alle anderen Komponisten von Mediterranean Voices entfernt sich Brahim Kerkour mit seinem Werk von der menschlichen Stimme: Intone ist ein Werk für sechs Sänger, bei dem über die gesamte Dauer des Stücks nicht gesungen wird. Vielmehr soll mithilfe von Mund- und Atemwerkzeugen ein ungleich größerer und reicherer Schatz an Klängen geborgen werden. Den Sängern wird dabei größtmögliche Sensibilität und Aufmerksamkeit im Einsatz und in der Wirkung der eigenen Mund- und Atemwerkzeuge abverlangt.
Die Idee von Intone ist die Entwicklung »eines kontinuierlichen Atems, in dem sich mikroskopische Bewegungen von Farben allmählich ausdehnen und zusammenziehen, illuminieren und verdunkeln und die Regionen eines (mentalen) akustischen Raumes betreten bzw. verlassen. Ich wollte eine nicht-menschliche stimmliche Palette von Gefühl, Leuchtkraft und Farbe entwickeln.« (B.K.)
Brahim Kerkour hat dabei genaue Vorstellungen von der charakteristischen Identität jedes Klangs und hat daher ein differenziertes Notationssystem entwickelt–allein 14 verschiedene Notenköpfe für die unterschiedlichen Möglichkeiten der Klangproduktion, Angaben über Lippenstellung und -druck, Zungenposition, Form der Mundhöhle, Luftdruck und mehr. Und auch im Notentext selbst sind immer wieder ausführliche Anweisungen ergänzt. Eine vom Komponisten selbst eingespielte CD vermittelte den Sängern zusätzliche Vorstellungen und Anweisungen über die Klänge. Trotz seiner exakten Vorstellungen lädt der Komponist die Interpreten ein, im Blick auf ihre unterschiedlichen Physiognomien die jeweiligen Möglichkeiten der Klangerzeugung zu erkunden, gebe es doch eine flexible Bandbreite innerhalb der individuellen Techniken. »Untersuche die Wirkung, die Mikro-Veränderungen in Bewegung und Dynamik auf das Gewicht, das Gefühl, die Leuchtkraft und Farbe des Klangs haben.« Viele dieser Techniken beträfen das Hören und das Führen der Stimme in Richtung dieser Klänge, indem man ästhetisch auf ihren Willen antworte und die Stimme zum wichtigsten Aspekt der Aufführung mache. »Jede Vorstellung wird eine Suche sein.«
Entsprechend den mikroskopischen Veränderungen der Klangfarben entwickelt sich auch die Dynamik des Werkes in minimalen Schritten. Ein Crescendo zu Beginn verläuft über zwei Takte aus der Lautlosigkeit hin zum vierfachem Pianissimo; auf der zweiten Seite wird dann ein dreifaches Pianissimo erreicht. Intone befindet sich daher über weite Strecken an der Hörgrenze und lädt auch die Zuhörer zu größtmöglicher Aufmerksamkeit ein. Brahim Kerkour möchte wenn irgend möglich auf Verstärkung verzichten (im Konzertsaal des Theaterhauses muss der Klang allerdings etwas angehoben werden).
Einhergehend mit dem Ausschluss des »menschlichen« Stimmklangs will Intone keine Geschichte erzählen, keine Objekthaftigkeit assoziieren, kein »Glaubensbekenntnis« abgeben. Es ist ausschließlich komponiert als eine Sinneserfahrung. »Mein Ziel ist es, den Hörer einzuladen zu einem genussvollen und feierlichen Klang.«