One line

Samir Odeh-Tamimi: Jarich (Mondgott)

für drei Frauenstimmen

(2013/2014)

Samir Odeh-Tamimi ist ein Geschichtenerzähler (und er hat einen unerschöpflichen Vorrat an palästinensischen Witzen auf Lager). Die Geschichten schweben zwischen Selbstironie und Sarkasmus, zwischen Verletzlichkeit und Zorn. Er erzählt sie im wirklichen Leben, und sie durchdringen sein gesamtes künstlerisches Werk. Sie sind geprägt von der Empathie für das eigene Volk, aber sie sind erzählt aus der Distanz des Wahleuropäers, der seit über 20 Jahren in Deutschland lebt. Und möglicherweise ist es gerade diese analytische Distanz, durch die es ihm gelingt, den Stoffen aus der arabischen Literatur und aus der islamischen Mystik in seinen Werken eine aktuelle Relevanz und oftmals politische Brisanz zu geben.
Seine Musiksprache, fest verankert in westlicher Kompositionskultur, schöpft aus dem Gestus arabischer und vor allem der Sufi-Musik, aus Koranrezitation und Brauchtum. Archaisch, rituell, eruptiv und oft am Limit von Energie und Dynamik, sind seine Werke meist knapp gefasst, ist die Musik eher Kommentar als Handlung, ohne Geschwätzigkeit, sondern mit großer eindeutiger Geste.
Das neue Werk Jarich bezieht sich auf Erinnerungen aus seiner Kindheit, auf die Geschichte seiner Mutter, deren Vater am Tag ihrer Geburt zu Zeiten der britischen Mandatsherrschaft erschossen wurde. Wenige Jahre später verlor sie bei der Teilung Palästinas auch ihre Mutter, die nach einem Verwandtenbesuch am Tag der Grenzziehung nicht mehr zurückkehren konnte. Die Familie, in einem palästinensischen Dorf auf israelischer Seite lebend, sollte 20 Jahre lang nichts von ihr hören. Samirs Mutter wuchs bei Verwandten auf. Sie glaubte nicht an den Tod ihrer Mutter, fühlteja hörtevielmehr eine innere Verbundenheit zu ihr. Immer wieder erzählt sie später ihren Kindern davon: von einer weiblichen Stimme, die nachts aus weiter Ferne zu ihr kam und wieder verschwand, und von den rituellen Trommeln und ekstatischen Gesängen der Sufi-Musiker, die eine wichtige emotionale Bedeutung für das ganze Dorf hatten. Auch diese imaginierten Klänge drangen in ihre Nächte ein, kamen näher und verschwanden wieder in der Ferne.
Ein starkes Bild, das Samir Odeh-Tamimi seine ganze Kindheit über begleitete. Das Näherkommen und sich Entfernen von Klängen, die mit Heimat und Kindheit verbunden sind, empfindet er selbst als Konstante und prägend für sein musikalisches Denken. Nun wird es zum bestimmenden Thema für das neue Werk.
Mit Jarich betritt Samir Odeh-Tamimi in technischer Hinsicht Neuland. Das Herzstück des Werks ist ein 4-Kanal-Tonband, eine Montage von Aufnahmen, die der Komponist im Herbst 2013 in Palästina machte. Es sind rituelle Gesänge und Trommeln von Sufi-Musikern, unterschiedlich gestimmte Gongs, Hochzeitsgesänge von palästinensischen Frauen sowie der Konzertauftritt einer berühmten palästinensischen Sängerin, Lobgesänge, bei denen sich die Sängerin »die Seele aus dem Leib schreit« (S.O.-T.).
Die Aufgabe der drei Sängerinnen in Jarich (die sich in früheren Vokalwerken Odeh-Tamimis durchaus selbst am Limit stimmlicher Möglichkeiten »die Seele aus dem Leib« wenn nicht geschrien, dann doch gesungen haben) ist nun eine andere. In Korrespondenz mit dem Tonband empfinden sie die Geschichte nach, die die Mutter des Komponisten so oft erlebte. Aus ruhigen Atemgeräuschen zu Beginn des Stücks entsteht im Näherkommen der traumartigen Tonbandklänge eine Unruhe, ein ahnungsvolles Aufgreifen der klanglichen Gesten vom Band bis hin zu einem immer noch zögernd-träumenden sirenenartigen Mitempfinden der Ekstase in dieser geträumten Sufi-Welt. Nach einer ausgedehnten seufzerartigen Entladung entfernt sich die Karawane langsam wieder ins Nichts.
»Jarich« ist der Mondgott, der vielleicht sein Licht über dieser Traumszene leuchten lässt, und »Jarich« ist auch der arabische Name für die Stadt Jericho. Manche sagen, es sei die älteste Stadt der Welt. Mit ihrer Nähe zum Jordan an der Nord-Süd-Achse zwischen Syrien und Ägypten gelegen, war sie zu allen Zeiten eine wichtige Handelsstadt und beherbergte Menschen aus allen Völkern. Für Samir Odeh-Tamimi ist sie ein Symbol der Zusammengehörigkeit aller Völker des Nahen Ostens. Heute ist Jericho eine Grenzstadt im geteilten Land.

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mit Unterstützung der TU Berlin