György Ligeti: Síppal, dobbal, nádihegedűvel (Liederzyklus)
Sándor Weöres war einer der größten Dichter Ungarns. Ein moderner, universaler und zugleich experimenteller Dichter, der sowohl die rhythmisch-metrischen als auch die semantischen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der ungarischen Sprache nutzte wie kein anderer. Tiefsinnig und spielerisch, elitär und vulgär–er war Ungarns Mozart. Ich habe im vorliegenden Zyklus sieben Gedichte beziehungsweise Fragmente verwendet, die inhaltlich stark kontrastieren. »Szajkó« scheint Nonsens zu sein, ist aber vollkommen verständlich. Dagegen ist »Tańcdal« pures rhythmisches Spiel, doch scheint das Gedicht eine tiefere Bedeutung zu haben. »Kínai templom« evoziert durch einsilbige Wörter ein Als-ob-Chinesisch. »Kuli« hat bitter sozialkritischen Inhalt, »Fabula« ist grotesk-aggressiv, »Alma álma« experimentelle Poesie von überirdischer Milde. Neben dem Mezzosopran agieren vier Schlagzeuger: Die Musiker des Amadinda-Ensembles hatten mich gebeten, etwas für sie und Kati Károlyi zu komponieren.
Geschrieben am 6. September 2000, als Einführungstext zur deutschen Erstaufführung am 24. November 2000. Erstdruck im Programmheft zum Festival »Gütersloh 2000: György Ligeti (3)« in Gütersloh, 23.–26. November 2000, S. 12.
Zum Liederzyklus »Síppal, dobbal, nádihegedűvel«
Síppal, dobbal, nádihegedűvel (Mit Pfeifen, Trommeln, Schilfgeigen) ist ein siebenteiliger Zyklus von ungarischen Liedern für tiefen Mezzosopran und vier Schlagzeugspieler, die ein vielfältiges Instrumentarium verwenden, darunter auch Nicht-Schlaginstrumente wie Lotosflöten und chromatische Mundharmonikas. Komponiert habe ich die Lieder im Jahr 2000.
Wie schon oft in meinem Leben vertonte ich Gedichte von Sándor Weöres, dem großen ungarischen Dichter des 20. Jahrhunderts. Weöres war–wie niemand vor ihm–ein Virtuose der ungarischen Sprache, seine poetischen Inhalte reichen vom Trivialen, ja Unflätigen über Sarkasmus und Humor bis zu Tragik und Verzweiflung, und sie umfassen auch artifizielle Mythen und Legenden. Einige seiner Werke sind großangelegte Fresken, ja Welten für sich. Daneben hat er unzählige kleine Gedichte geschrieben, ernste und spielerische gleichermaßen. Vertont habe ich stets solche kleinen Gedichte.
Der Zyklus enthält folgende Lieder: 1. »Fabula« (Fabel): Wölfe fürchten sich höllisch vor zwei Bergen, die einander begegnen und die Tiere erbarmungslos zermalmen. 2. »Tańcdal« (Tanzlied): Der Text klingt zwar ungarisch, besteht jedoch aus imaginären Wörtern, die nur Rhythmus, keine Bedeutung haben. 3. »Kínai templom« (Chinesischer Tempel): Weöres gelingt es hier, mit lauter einsilbigen ungarischen Wörtern die Wunschlosigkeit der buddhistischen Lebensauffassung zu vermitteln. 4. »Kuli« (Kuli): Die eintönige Hoffnungslosigkeit und zurückgehaltene Aggressivität eines asiatischen Parias wird poetisch dargestellt. 5. »Alma álma« (Traum): Die Zweige eines Apfelbaums schaukeln sanft im Wind; ein Apfel träumt von Reisen in ferne, verzauberte Länder. Die Gesangsstimme habe ich in den Klang von vier Mundharmonikas eingehüllt–eine fremdartige, surreale Stimmung entsteht. 6. »Keserédes« (Bittersüß): Das Gedicht ist ein ungarisches Volkslied, doch ist es »unwahr«. Diese Zwiespältigkeit habe ich durch eine Kombination von künstlicher Folklore und einer schlagerartigen Melodie wiederzugeben versucht, wobei die Begleitung gleichsam künstlichen Süßstoff enthält. 7. »Szajkó« (obwohl das Wort einen anderen Vogel bezeichnet, handelt es sich um einen Papagei): Der ungarische Text ergibt zwar einen gewissen Sinn, doch geht es hier fast um Nonsens-Wortspiele, die einen rhythmischen Schwung erzeugen.
Der Titel des Zyklus stammt nicht von Weöres, sondern ist eine Zeile aus einem ungarischen Kindervers, einer Art Abzählreim, aus der Zeit der türkischen Besatzung Ungarns.
Einführungstext für das Begleitheft zur CD-Edition bei Teldec Classics (The Ligeti Project III, 8573–87631–2), Hamburg 2002.
Aus: György Ligeti, Gesammelte Schriften (Veröffentlichungen der Paul Sacher Stiftung, Bd. 10), hrsg. von Monika Lichtenfeld, Mainz: Schott Music 2007, Bd. 2, S. 313–314. © Paul Sacher Stiftung, Basel und Schott Music GmbH & Co. KG, Mainz, Bestellnummer: PSB 1014